Kin­der haf­ten für ihre El­tern: Schul­den beim Job­cen­ter

Von Dr. Sally Pe­ters und Dr. Duygu Damar

Rund eine halbe Mil­li­on Min­der­jäh­ri­ge hat Schul­den bei der Bun­des­agen­tur für Ar­beit. Im Au­gust 2021 teil­te die Bun­des­agen­tur für Ar­beit mit, dass sie ge­gen­über 517.669 Min­der­jäh­ri­gen of­fe­ne For­de­run­gen mit einem Ge­samt­be­trag von 173.671.919 Euro hat. Das um­fasst zum Bei­spiel Rück­for­de­run­gen von SGB Leis­tun­gen oder Kin­der­geld. Auch wenn die Zah­len etwas ge­sun­ken sind – 2020 waren es noch For­de­run­gen ge­gen­über 743.057 Min­der­jäh­ri­gen ge­we­sen – blei­ben sie alar­mie­rend.

Aber wie kann es dazu kom­men?

Die Bun­des­agen­tur für Ar­beit for­dert über­zahl­te So­zi­al­leis­tun­gen, die durch Ver­hal­ten der ge­setz­li­chen Ver­tre­ter:innen (re­gel­mä­ßig die El­tern) von Min­der­jäh­ri­gen ent­ste­hen, auch von Min­der­jäh­ri­gen zu­rück, wenn diese voll­jäh­rig wer­den. Zu Rück­for­de­run­gen kommt es zum Bei­spiel, wenn ein Job auf­ge­nom­men wird, aber noch So­zi­al­leis­tun­gen ge­zahlt wer­den. Die­ser Leis­tungs­be­zug wird nicht zwangs­wei­se mut­wil­lig ver­ur­sacht, son­dern kann auch ein­fach ent­ste­hen, wenn eine neue Tä­tig­keit kurz­fris­tig auf­ge­nom­men wer­den kann. Ge­ra­de bei un­re­gel­mä­ßi­gem Ein­kom­men kann es re­gel­mä­ßig zu Über­zah­lun­gen kom­men

Min­der­jäh­ri­ge bil­den zu­sam­men mit ihren El­tern eine Be­darfs­ge­mein­schaft. Er­stat­tungs­for­de­run­gen des Job­cen­ters rich­ten sich immer gegen alle Mit­glie­der der Be­darfs­ge­mein­schaft und nicht nur gegen die an­trag­stel­len­de Per­son. Bei Min­der­jäh­ri­gen rich­ten sie sich gegen deren ge­setz­li­chen Ver­tre­ter:innen, mit dem Ein­tritt der Voll­jäh­rig­keit je­doch auch gegen den/die (ehe­ma­li­gen:n) Min­der­jäh­ri­ge:n di­rekt. Dem­entspre­chend muss also jede Per­son ein­zeln gegen eine sol­che For­de­rung vor­ge­hen.

Die An­spruchs­be­rech­ti­gung aller Per­so­nen der Be­darfs­ge­mein­schaft än­dert sich, wenn sich das Ein­kom­men einer der Per­so­nen in der Be­darfs­ge­mein­schaft än­dert. Somit kann es dann für die Mit­glie­der der Be­darfs­ge­mein­schaft zu Rück­for­de­run­gen kom­men – auch rück­wir­kend. Da SGB II Leis­tun­gen le­dig­lich das Exis­tenz­mi­ni­mum si­chern, kön­nen sol­che Rück­for­de­run­gen rasch exis­tenz­ge­fähr­dend sein.

Es ist wich­tig, den Grund der Er­stat­tungs­for­de­rung zu über­prü­fen. Leis­tun­gen zum Le­bens­un­ter­halt für Min­der­jäh­ri­ge wer­den dabei den na­tu­ral­un­ter­halts­pflich­ti­gen Er­wach­se­nen oder auch den Min­der­jäh­ri­gen zu­ge­rech­net. Dem­entspre­chend sind Pfle­ge­geld gem. SGB VIII, So­zi­al­hil­fe gem. 3. Kap. SGB XII, Kin­der­zu­schlag gem. § 6a BKGG und Wohn­geld (§ 29 Abs. 1 WoGG) vom na­tu­ral­un­ter­halts­pflich­ti­gen Er­wach­se­nen zu er­stat­ten. Von den voll­jäh­rig ge­wor­de­nen Per­so­nen zu­rück­zu­er­stat­ten sind da­ge­gen fol­gen­de Leis­tun­gen, die in ihrer Min­der­jäh­rig­keit auch ihnen zu­ge­rech­net wor­den sind: So­zi­al­geld und ALG II gem. SGB II, Asyl­bLG-Leis­tun­gen (§ 9 Asyl­bLG i.V.m. § 50 SGB X), BAföG-Leis­tun­gen (§ 20 Abs. 1 S. 1 Nr. (4) BAföG) und (Halb-) Wai­sen­ren­ten (§ 48 SGB VI i.V.m. § 44 Abs. 1 SGB X).

Junge Er­wach­se­ne star­ten so wo­mög­lich schon im Alter von 18 Jah­ren ver­schul­det in das Er­wach­se­nen­le­ben– außer sie er­he­ben die Ein­re­de der Min­der­jäh­ri­gen­haf­tungs­be­schrän­k­u­ng.

Was heißt ei­gent­lich Min­der­jäh­ri­gen­haf­tungs­be­schrän­k­u­ng?

§ 1629a BGB schützt Min­der­jäh­ri­ge, indem er diese davor be­wahrt, mit Er­rei­chen der Voll­jäh­rig­keit für das Han­deln ihrer ge­setz­li­chen Ver­tre­ter:innen haft­bar ge­macht wer­den zu kön­nen. Ob diese Ver­hal­ten ver­schul­det oder un­ver­schul­det war, ist dabei un­er­heb­lich. Mit Er­rei­chen der Voll­jäh­rig­keit be­steht im Rah­men der Be­schrän­kung der Min­der­jäh­ri­gen­haf­tung die Mög­lich­keit, diese Haf­tung auf das zum Ein­tritt in die Voll­jäh­rig­keit vor­han­de­ne Ver­mö­gen zu be­gren­zen. Diese Haf­tungs­be­schrän­kung muss in der Regel von der be­trof­fe­nen Per­son durch eine sog. Ein­re­de gel­tend ge­macht wer­den (§ 1629a Abs. 1 S. 2 BGB).

Eben­so un­er­heb­lich ist, aus wel­chem Grund es zur Über­zah­lung kam (z.B. fal­sche An­ga­ben oder Über­zah­lung) und ob die Leis­tun­gen des Job­cen­ters in der Ver­gan­gen­heit auf­grund eines vor­läu­fi­gen oder eines end­gül­ti­gen Be­wil­li­gungs­be­schei­des aus­ge­zahlt wor­den sind. Zudem gibt es keine Ba­ga­tell­gren­ze für die Min­der­jäh­ri­gen­haf­tungs­be­schrän­k­u­ng, auch wenn die Rück­for­de­rung ein ge­rin­ge­rer Be­trag ist, kann man sich dar­auf be­ru­fen.

Und was kön­nen junge Er­wach­se­ne tun?

Den Min­der­jäh­ri­gen wird seit Ja­nu­ar 2021 zu­sam­men mit den Er­stat­tungs­for­de­run­gen ein Auf­klä­rungs­schrei­ben ge­schickt, um sie über ihre ge­setz­li­che Rech­te zu in­for­mie­ren. Je­doch ist frag­lich, ob die­ses Auf­klä­rungs­schrei­ben aus­rei­chend ist oder ob es hier nicht einer grund­sätz­li­che­ren Lö­sung be­darf.

Haben die Min­der­jäh­ri­gen das Schrei­ben des So­zi­al­leis­tungs­trä­gers zur Er­he­bung der Ein­re­de er­hal­ten, müs­sen sie die dem Schrei­ben bei­ge­füg­te Ver­mö­gens­auf­stel­lung aus­fül­len. Diese muss das Ver­mö­gen zum Zeit­punkt des 18. Ge­burts­tags ab­bil­den. Es be­steht keine Frist. Die Ein­re­de kann also auch zu einem spä­te­ren Zeit­punkt er­fol­gen.

Wenn der Ver­dacht be­steht, dass junge Er­wach­se­ne mit Schul­den in ihre Voll­jäh­rig­keit star­ten, soll­ten sie mög­lichst früh dafür sen­si­bi­li­siert wer­den, dass zum 18. Ge­burts­tag Hand­lungs­be­darf be­steht. Mit Er­rei­chen der Voll­jäh­rig­keit soll­te den Gläu­bi­ger:innen dann mit­ge­teilt wer­den, dass die Ein­re­de der Min­der­jäh­ri­gen­haf­tung er­ho­ben wird. Ver­mö­gens­wer­te müs­sen dann ent­spre­chend be­legt (Kon­to­aus­zug o.ä.) wer­den.

Ohne Er­he­bung der Haf­tungs­be­schrän­kung haf­ten die jun­gen Voll­jäh­ri­gen wei­ter­hin un­be­schränkt mit ihrem ge­sam­ten Ver­mö­gen an­statt mit ihrem zum Zeit­punkt ihres 18. Ge­burts­tags be­ste­hen­den Ver­mö­gens.

Üb­ri­gens: Die So­zi­al­leis­tungs­trä­ger sind ver­pflich­tet, von sich aus den Ver­mö­gens­be­stand am 18. Ge­burts­tag zu prü­fen. Eine Auf­he­bung ist auch rück­wir­kend mög­lich. Das gilt auch dann, wenn die For­de­rung be­reits be­zahlt ist. Es be­steht zudem keine ein­zu­hal­ten­de Frist für die Ein­re­de.

Und wenn die jun­gen Er­wach­se­nen keine Ein­re­de er­he­ben?

Schlimms­ten­falls führt das dazu, dass ehe­ma­li­ge Min­der­jäh­ri­ge ihr kom­plet­tes Ver­mö­gen ein­set­zen müs­sen, um Rück­stän­de zu be­glei­chen. Er­spar­nis­se für Aus­bil­dung/Stu­di­um, Füh­rer­schein oder die erste Woh­nung, die zum Zeit­punkt des 18. Ge­burts­ta­ges noch nicht vor­han­den waren, sind dann wo­mög­lich gänz­lich auf­ge­zehrt, ob­wohl es sich hier nicht um selbst ver­schul­de­te Ver­bind­lich­kei­ten han­delt. Das kann so weit füh­ren, dass die jun­gen Er­wach­se­nen wie­der hilfs­be­dürf­tig wer­den. Die der­zei­ti­ge ge­setz­li­che Aus­ge­stal­tung stellt somit kei­nen ef­fek­ti­ven Schutz dar.

Re­form in Sicht?

Wün­schens­wert wäre eine Re­form der der­zei­ti­gen Rechts­la­ge, damit Min­der­jäh­ri­ge grund­sätz­lich nicht für die Schul­den ihrer El­tern bei So­zi­al­leis­tungs­trä­gern be­langt wer­den kön­nen.Das Thema ist auch so­zi­al­po­li­tisch bri­sant.

Lei­der ist davon aus­zu­ge­hen, dass vie­len die Rechts­la­ge bis­her nicht klar war und sie daher die of­fe­nen For­de­run­gen be­zahlt haben. Das seit 2021 ver­sand­te In­for­ma­ti­ons­schrei­ben ist hier ein ers­ter Weg der Bes­se­rung. Es ist al­ler­dings kaum nach­voll­zieh­bar, warum die­ser Weg nicht vor­her ge­wählt wurde. Das In­for­ma­ti­ons­schrei­ben löst zudem nicht das grund­sätz­li­che Pro­blem, dass Kin­der hier für ihre El­tern haft­bar ge­macht wer­den.

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